Mittwoch, Juli 19, 2006

Ein Naturerlebnis aus Finnland

Aus der Hausarbeit von Stefan:
Ein Naturerlebnis welches mir den bedrohlichen Aspekt der Natur deutlich vor Augen geführt hat, hat mit der Ostsee zu tun.

Mein letztes Pfadfinder-Sommerlager fand im August 2005 auf einer Insel namens Kaunissaari statt. Die Insel liegt vor der Industrie- und Hafenstadt Kotka (ca. 300 km östlich von Helsinki). Sie ist nur über eine kleine Fähre zu erreichen, die etwa zwei Mal täglich hin und zurück fährt. Die Überfahrt dauert verblüffenderweise ziemlich genau eine Stunde.
Der Name „Kaunissaari“ bedeutet auf Deutsch übersetzt schlicht und einfach soviel wie „Schöne Insel“ und ist damit sehr zutreffend: Kaunissaari ist eine Sandinsel – und damit eine Seltenheit in Finnland, denn die meisten Inseln hier sind felsig – mit kilometerlangen Sandstränden, einem kleinen Leuchtturm im Nordosten und einem einzigen, wirklich malerischen Dorf am Südende mit einem überteuerten Café und Dorfladen
Seit vielen Jahren verbringen wir jedes Sommerlager auf der ruhigen Insel. Anfangs haben wir ein paar Mal überlegt, das Lager woanders abzuhalten, aber die Insel erfreut sich in der Gruppe so großer Beliebtheit, dass kaum einer einen Sommer auf sie verzichten möchte.
So sind Anreise zum Lager, Erschließung des Lagerplatzes und Ablauf des Lagers mehr oder weniger zu einer vergnüglichen Routine geworden – dachte ich zumindest bis letztes Mal.
Doch im letzten Lager – während wir gerade auf der Insel saßen, fand übrigens in Helsinki gerade die Leichtathletikweltmeisterschaft statt – kam es plötzlich und ohne rechte Vorwarnung zu einem heftigen Sturm.
Von einem Tag auf den anderen färbte sich der Himmel plötzlich stahlgrau, die Wellen, die fünfzig Meter von unseren Zelten entfernt auf dem Strand ausrollten, türmten sich immer höher, Sand wurde aufgewirbelt und mischte sich in den Regen; das unange-nehme Gemisch flog waagerecht im Sturm und peitschte uns schmerzhaft in die Gesichter. Die grünen Stoffzelte (DDR-Fabrikate, gute Qualität) wurden gebeutelt und überstehender Stoff flatterte so heftig im Wind, dass er dabei merkwürdige Knattergeräusche erzeugte.
Interessanterweise war es trotz des Windes und des Regens nicht einmal besonders kalt. Aber ausnahmslos jedes Teil unserer Ausrüstung, bis auf diejenigen, die wir in Plastik-säcken verpackt im Rucksack hatten, war durch und durch nass.
Wir erfuhren per Handy, dass keine Fähren fuhren (was uns beim Anblick des Meeres auch nicht weiter wunderte), dass dies der schlimmste Sturm seit was-weiß-ich-wie-vielen-Jahren sei, dass ein Helikopter mitten im Finnischen Meerbusen ins Meer gestürzt war und dass in Helsinki die WM unterbrochen werden musste.
Das war uns zunächst allerdings ziemlich egal. Unsere Aufmerksamkeit galt zunächst ausschließlich der Befestigung des Lagers. Anstatt von Heringen trieben wir mithilfe von großen Steinen und Hämmern meterlange, dicke Holzpflöcke in die sandige Erde und befestigten die Spann- und Sturmleinen an ihnen. Wir bauten auch zwei Windschutze aus mehreren Holzstämmen und jeweils einer Plane.
Relativ früh schon legten wir uns schlafen, denn raus aus den Zelten wollte keiner so recht gehen. Trotz des Lärmes vom Sturm draußen und des bedrohlichen Schwankens des Zeltes schliefen wir recht bald ein, denn im Pfadfinderlager ist man abends immer müde.
Irgendwann in der Nacht, es muss so gegen drei Uhr gewesen sein (ich hab mich erst später getraut, auf die Uhr zu schauen), weckte mich ein Freund hastig.
Kaum war ich halbwegs wach und hatte mich auf meiner Matte aufgerichtet, drückte er mir eine kalte Metallstange in die Hand mit den Worten „Gut festhalten!“. Ich war etwas überrascht, aber als ich an der Stange entlang nach oben schaute, begriff ich trotz meiner Schlaftrunkenheit, was los war. Das Zelt war gerade dabei zusammenzubrechen, ich saß auf meiner Matte und hielt etwas hilflos die Zeltstange in meinen klammen Händen, die durch das zerren des Windes am Zelt übel verbogen war und allem Anschein nach kurz davor, nachzugeben und zu brechen.
Während ich so dasaß und in Sekundenschnelle immer wacher wurde, merkte ich, dass nach und nach alle geweckt wurden und man begann, sämtliche Sachen aus dem Zelt zu räumen. Mein Freund der mich geweckt hatte, hielt dann wieder das Zelt aufrecht, damit ich mich anziehen konnte. Dann hielt ich abwechselnd die Stange und räumte Sachen aus dem Zelt, während jemand anders sie hielt.

Was passierte dann?
Tja, knapp gesagt – kurz bevor wir mit unserer nächtlichen Evakuierung fertig waren, riss der Zeltstoff ein und die Behausung brach zusammen. Auch ein weiteres Zelt wurde zerfetzt, und von unseren Windschutzen hielt nur einer bis zuletzt stand. Wir schafften unsere Sachen weg von der Küste, tiefer in den Wald. Dort war es erheblich ruhiger und der Sturm schwächer. Trotzdem waren hier und da Bäume umgestürzt. Im Wald bauten wir auch unsere Ersatzzelte auf und mit jedem folgenden Tag ließ der Sturm rapide nach.
Diese Geschichte ist seitdem eine beliebte Anekdote, die wir Pfadfinderleiter gerne den Jüngeren erzählen.
Obwohl dieser Sturm für uns letztendlich nicht wirklich gefährlich war, kann ich mir seitdem besser vorstellen, wie es sich anfühlt, eine „richtige“ Naturkatastrophe mitzuerleben und der Natur ohne wirkungsvollen Schutz ausgeliefert zu sein.
Stefan, Helsingin Saksalainen Koulu, Finnland
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siehe auch:
den Aufsatz über den Umgang mit der Natur in Finnland
und die Aufsätze von Iina über Mensch und Umwelt in Finnland und Sommerhaus als Rückzug in die Natur

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